Reichspogromnacht in Echtzeit


Ich bin schon lange ein Fan des Twitter-Accounts von WW2 Tweets – einem ambitionierten Projekt, dass seit etwas über zwei Jahren so tut, als fände der Zweite Weltkrieg live auf Twitter jetzt statt. Gepostet werden nicht nur Geschehnisse, sondern auch Quellen, Fotografien, Links zu Radionachrichten von damals. Da ich mich nie so richtig für die Schlachten-Historie des 2. Weltkrieges interessiert habe, ist es besonders spannend zu sehen, wie wenig sich manchmal getan hat – besonders 1939 und 1940 – und wie sich dann in anderen Monaten die Nachrichten überschlagen.  Die Quellen sind sauber zitiert, nur wer hinter dieser Menge an Arbeit und Recherche steckt, das erfährt man leider nicht.

Heute vor 75 Jahren

Vor wenigen Tagen startete das ebenso ambitionierte Projekt Heute vor 75 Jahren, das auf Twitter zum 75. Jahrestag die Reichspogromnacht in Echtzeit nachvollziehbar macht. Das Team begann am 28. Oktober 1938 – weil damals Juden mit polnischen Dokumenten bereits in einer Hauruck-Aktion ausgewiesen wurden, darunter die Angehörigen von Herschel Grynszpan. Wer bisher der Meinung war, die antisemitische Verfolgung begann im Dritten Reich erst mit dem 9. November, wird hier eines besseren belehrt. Die Verfolgung aller Juden in Deutschland war bis zum November 1938 bereits ausgiebig und in sämtlichen Aspekten vorbereitet worden, man brauchte nur noch einen Anlaß, um effektiv loszuschlagen.  Dass ausgerechnet am 9. November Ernst-Eduard von Rath an den Folgen des Attentats starb, muss für die Nazis ein willkommenes Geschenk gewesen sein. Ich bin in den Quellen zu 1938 selbst nicht so bewanders, aber das 15. Jubiläum des Hitler-Ludendorff-Putsches war für die Nazis genau das Datum, das sie zur Umdeutung ihrer Schmach brauchten. Meine absolut einzige Kritik an dem Projekt: Manche der Original-Quellen könnten besser zitiert sein – so dass man sie auch findet, wenn man sich selbst auf die Suche nach der entsprechenden Quellensammlung macht.

ps: Ich halte Sauna-Nächte zwar sonst für eine gelungene Samstag-Abend-Unternehmung, aber es macht sicher schlauer, den Abend vor Twitter zu verbringen, als zur Kristall-Nacht nach Bad Klosterlausnitz zu gehen…

pps: Wir haben ja noch etwas über 7 Monate… Denn für den Ersten Weltkrieg, der sich nächstes Jahr zum 100. Mal jährt, gibt es leider keinen vergleichbaren Account. Der Account Real Time WW I läuft sich zwar schon warm, könnte aber viel mehr draus machen. Das verheerende Wettrüsten der Flotten zwischen England und dem Deutschen Kaiserreich hatte schließlich schon längst begonnen.  Der Account Tweeting World War verkennt die Möglichkeiten des Mediums und posaunt unzusammenhängende Tweets in die Welt – mal aus 1918, mal einen The Guardian-Bericht über das Imperial War Museum. Ein Historiker aus Berkeley mit diesem Account sagte wenigstens gleich von vornherein, dass er über verschiedene Topics aus beiden Kriegen tweetet.

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